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Zeichen der Freundschaft: Über den Ozean

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Die meisten von uns nutzen Whatsapp, um einander zu fragen, wie es demjenigen geht oder um ein Treffen auszumachen. Doch unsere Autorin liebt altmodische Kommunikation.

Draußen ist es bereits dunkel, als ich heimkomme. Auch wenn ich k.o. bin, laufe ich schnell am Briefkasten vorbei. Schlüssel rauskramen, Postfach öffnen, reingucken. Nein – Rechnungen sehe ich nicht gerne. Dafür etwas anderes: Postkarten aus aller Welt und handgeschriebene Briefe. Auch heute liegt ein dicker Brief darin. Neugierig öffne ich ihn. Neben einer kurzen Notiz befinden sich Fotos im Umschlag. Auf einem Bild sehe ich die Skyline von Vancouver. Wolkenkratzer um Wolkenkratzer. Ich drehe das Foto um. „View from Cambie Bridge“ steht da. Auf dem Foto danach sitzt ein roter Frosch zwischen grünen Pflanzen. Die Rückseite ist beschriftet mit: „False tomato frog, Vancouver Aquarium“. So geht es Bild für Bild weiter. Ich muss lächeln, als ich mir die restlichen Fotos ansehe. Es fühlt sich an, als wäre ich selbst in Vancouver.

Es war in der zehnten Klasse, als ich Kristen kennenlerne. Unser Englischlehrer teilte Zettel aus. Internationales Preisträgerprogramm hieß es da. Jedes Jahr laden die Kultusminister der Länder Schüler aus vielen Ländern ein, vier Wochen in Deutschland zu verbringen. Es ist ihre Belohnung, weil sie die besten Deutschschüler ihres Landes sind. Dafür suchte unser Englischlehrer Gastfamilien. Klar, war ich da dabei. Anna wohnte bei mir. Bald bildete sich eine Mädelsgruppe. Vier Amerikanerinnen und zwei Deutsche. Kristen war eine von den Amerikannerinnen.

Zusammen mit unseren Gastschülern fuhren wir nach Bamberg und München, gingen Bowlen und auf den Stadtstrand in Nürnberg. Die vier Wochen vergingen wie im Flug. Nach einem Monat intensiven Erlebnissen war es ein trauriger Abschied. Doch einige Wochen später flatterte eine Postkarte in meinen Briefkasten. Es waren Zeichen von Indianer darauf. Von Kristen.

Fünf Jahre sind vergangen. Die Postkarten und Briefe kann ich schon gar nicht mehr zählen. Der Stapel ist höher als das dickste Buch. Zuerst waren es nur hin und wieder Postkarten. Dann mehr. Von ihren Wochenendausflügen von Washington aus. Von ihrem Urlaub in Taiwan. Und seit Kristen letztes Jahr ihren Abschluss gemacht hat, bekomme ich Postkarten aus ganz Nordamerika. Manchmal schickt sie mir in einer Woche jeden Tag eine. Jede Postkarte ist einzigartig. Alle sind bunt. Kristen verwendet verschiedene Farben zum Schreiben. Klebt Sticker darauf. Oder besondere Briefmarken. Wie die Harry Potter Briefmarken. Sie erzählt mir, was sie bei einem Kurzurlaub in Chicago oder San Francisco gemacht hat. Und am Ende ihres Urlaubs habe ich einen dicken Brief in meinem Postfach – mit einer Karte von San Francisco, Flyer von einem Theaterstück oder dem Maritimmuseum. Jeweils mit einer kurzen Notiz dazu.

Vor ein paar Monaten hat sie mir einen dicken Brief geschrieben. Zehn DinA4-Seiten. Kleine Schrift. Beidseitig beschrieben. Auf Englisch. Es ist schön, einen handgeschriebenen Zettel in der Hand zu halten. Von einem Leben über den Ozean zu lesen. Über Gott und die Welt zu reden. Im Gegenzug bekommt Kristen natürlich auch Briefe von mir – und Postkarten. Von meinem Winterurlaub in Österreich. Von meinem Sommerurlaub in Lissabon. Oder einfach von meinem aktuellen Wohnort. Wir müssen uns nicht körperlich nahe sein, um eine enge Freundschaft zu haben.

Kristens Postkarten und Briefe hüte ich wie einen Schatz. Ich träume von Orten, an denen ich nie war. Kristen hat mich aber dorthin mitgenommen. Mit ihren Postkarten. Öffne ich meinen Briefkasten, entdecke ich eine weit gereiste Karte. Und empfange sie mit Freude. Vor Weihnachten war es eine Karte vom Christkindlmarkt in Chicago. Fast wie der in Nürnberg. Klar, dass ich ihr vom weltberühmten Christkindlmarkt meiner Heimatstadt auch eine Karte schicken musste.

Foto: Yunus Hutterer

Text: Lena Schnelle


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